Möge das heilige Christkind auch zu Dir, und vor allem zu Dir, tröstlich hell, mit seinem lautersten Segen kommen, liebe Mama, dich beschenkend: womit?: mit der innigen Gewissheit, dass, wie die Zeiten und Unzeiten sich auch gebärden, das geschützte, das heimliche Herz ein Schauplatz und eine Insel Gottes ist, eine Niederlassung der Himmel, in der Friede sein kann, Hoffnung und heilige Freude, wenn auch die ganze Welt unter Schicksal und Zerstörung steht! Gott ist das einzige Erlebnis unseres Wesens in seinem Kerne, in seiner Einheit und Innigkeit; wo wir wirklich erleben, vermögen wir nichts anderes als ihn, den Ansatz und Anlauf zu ihm, denn dass er sich in uns nicht vollzieht und begreift, sondern nur eben anschlägt, das soll uns an seiner Gegenwart nicht irre machen. So stark ist er, dass selbst die stärkste Heimsuchung keine Kraft hat vor ihm; und in der Ahnung schon, in jedem Vorgefühl seines Angesichts ist unser Elend und aller Tod in der Welt überwogen und aufgehoben. Dies soll der Weihnachtsstunde Glanz und Weihe sein, dass wir die Schuldlosigkeit Gottes zugeben im Bilde des menschlichen Kindes: so wie dieses hereingerät in die Mutter und in den blutlichen Bezug und sich muss gebären lassen in ein vertrauliches Fremdes hinein, so kommt Gott, inwissend, in unserem Geiste zur Welt und wird verstrickt und verbildet darin und hineingeschlossen wie das Kind in seine unsägliche Kindheit. Wenn aber das irdische Kind abgeht von sich und sich selber ausgeredet wird, und zögernd oft nur ein Zehntel seines Wachstums erreicht unter den Menschen -, nicht so das Kind Gott, das in unserem Geiste wahr und gewaltig ist und sein vollkommenes Leben hat über unseren Geist hinaus, aber immer wieder geboren in ihm, immer wieder sich rührend in ihm, in ihm seine ersten Schritte versuchend.

Rainer Maria Rilke an die Mutter Sophie