Staatstheater Darmstadt

“Freude schöner Götterfunken?”: Die Melodie wurde Europahymne. Sie ist nachts zum Sendeschluss oder vor den Mitternachtsnachrichten der öffentlich-rechtlichen Anstalten zu hören. Es ist das Hauptstück für alle feierlichen Anlässe, nicht nur zur Wiedervereinigung gespielt, sondern auch regelmäßig und vielerorts an Neujahr. Die Noten sind inzwischen “Weltdokumentenerbe”. In den frühen 1950er-Jahren wurde das Werk als “Ersatz”-Nationalhymne genutzt, denn bis 1960 zog die damals noch gesamtdeutsche Olympiamannschaft zu ihren Klängen in das Stadion ein. Da mögen Haydn und Mozart noch so viele Sinfonien geschrieben haben, die NEUNTE wurde zur magischen Zahl. “Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort.”, schrieb Arnold Schönberg 1912 in seiner Gedenkrede auf Gustav Mahler.

Der hohe Ton, den Schiller in seiner “Ode” anschlägt, berührt immer noch und verheißt Freiheit, Frieden und Glück: “Alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt.”
Erste Skizzen stammen von 1815. Im Herbst 1822 befasste sich Beethoven wieder mit dem Werk, und es wurde im Februar 1824 fertiggestellt. Die Londoner Philharmonic Society hatte durch Beethovens ehemaligen Schüler Ferdinand Ries ein Doppel bestellt, eine neunte und eine zehnte Sinfonie. Nachdem Beethoven andere große Werke wie die “Missa solemnis” und die “Diabelli-Variationen” beendet hatte, vertröstete er dennoch die Londoner Auftraggeber und sendete erst gut ein Jahr nach der vereinbarten Abgabe die 9. Sinfonie nach London, wo sie im März 1825 unter der Leitung von Sir George Smart gespielt wurde. Die Uraufführung der Neunten fand am 7. Mai 1824 in Wien statt. Von einer zehnten Sinfonie gibt es nur Skizzen.

Mit Schillers “Ode an die Freunde” befasste sich Beethoven schon zu Bonner Zeiten. 1815 hatte sich der Zeitgeist geändert. In Wien lagen die Opern Rossinis im Trend, und es herrschte die Restauration. Aber den Zeitgenossen war sofort klar, welch epochemachendes Werk sie da hörten, und wie das Werk mit Bedeutung aufgeladen wurde: “Alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt.” War dieser Schiller-Text, den Beethoven im 4. Satz nutzte, ein Bekenntnis zu weltumspannender Brüderlichkeit (fraternité) oder das Bekenntnis zu den Idealen der Menschenrechte? Oder war es ein Ausdruck übergroßer Freude? Sofort begann die Debatte über die Bedeutung, und sie dauert an. Die allermeisten verstanden die Musik Beethovens als Bekenntnis zur Menschenwürde. Sie wurde als ein seltsames Paradox empfunden – musikalisch bestürzend neu, reich und groß, und sie hielt andererseits an Ideen des 18. Jahrhunderts, an Leitbegriffen der Aufklärung fest, an der Idee der Brüderlichkeit und der Idee des moralischen Fortschritts. “In ihr”, so Otto Baensch, “triumphiert der Geist des 18. Jahrhunderts. Die Sinfonie ist ein Appell an die Menschheit, eine neue, bessere Gesellschaftsordnung zu begründen und in alle Zukunft zu erhalten. Sie ist – wenn man die ungeheure musikalische Dynamik, die sie entfaltet, ernst nimmt – ein Appell zur Revolution aller Verhältnisse, zu einer Revolution, die – wie das Finale zeigt – mit den Verächtern ihres Ideals wenig tolerant umgeht. (Seidel) Sie ist – zweifellos, ein machtvolles Zeugnis einer vergangenen Zukunftshoffnung. Und ist sie mehr als das. Die musikalische Substanz der hochkomplexen ersten Sätze ist von höchster Attraktivität, noch immer ergreifend.

Dass Beethoven auch als “Titan der Tonkunst” gilt, liegt wohl auch an der hymnischen zeitgenössischen Kritik nach der Neunten. Da las man in der “Allgemeinen musikalischen Zeitung” von “Originalität” und “welch himmlischer Gesang, wie überraschend die Kombinationen und Wendungen der Motive, welche kunst- und geschmackvolle Durchführung, wie natürlich alles bei der üppigsten Fülle”, welche Erhabenheit des Ausdrucks und großartige Simplizität” und etwas weiter ist von “non plus ultra” die Rede. Lob und Preis dem würdigsten hohen Priester der Tonkunst.

Neben der Fünften ist die Neunte die einzige Sinfonie in einer Moll-Tonart. Der langsame Satz steht – bei Beethoven in dieser Phase eher bei den kleineren Werken zu sehen – an dritter Stelle. Und mehr noch: Das ganze Werk zieht die Hörer in den Bann. Der Stilbruch ist nicht das einzige Ereignis in der Sinfonie. Der erste Satz ist groß dimensioniert und spannungsgeladen und so lang, wie sonst nur der erste Satz der “Eroica”. Den 2. Satz – erstmals in einer Beethoven-Sinfonie ist ein Scherzo an zweiter Stelle – könnte man überschreiben: Alle Gewalt geht vom Rhythmus aus. Die Theorie des 18. Jahrhunderts wusste, dass ein einförmiger Rhythmus in die Ekstase treibt, besonders wenn er regelmäßig auf das Publikum einschlägt. Der 3. Satz mischt Form und Charakter von Gebet und Lied, das Adagio zieht in den Bann einer stillen Melodie. Dann der Beginn des 4. Satzes wie ein Inferno: Dieses Finale ist bestürzend neu, revolutionär. Ein großer Chor, ein Solistenquartett episodisch, mit einem langen Rezitativ, opernhaft, ein Marsch mit türkischem Schlagzeug, eine Doppelfuge. Immer noch wird die Ungeheuerlichkeit dieser Musik beim ersten Hören bewusst.
Und all das mit einer Energie und einem Ausdruck ohne je Effekthascherei zu sein. Auch bei 100-maligem Hören wird man sich immer noch über die kompositorische Meisterschaft freuen und von dem Ideenreichtum mitreißen lassen.

Gernot Wojnarowicz