Wie Jesus wirklich starb

Es ist der 9. Nisan des jüdischen Kalenders, das 17. Jahr der Herrschaft des römischen Kaisers Tiberius – Sonntag, der 2. April des Jahres 30. An diesem Tag erreicht Jesus von Nazareth ein Rasthaus in Bethanien, östlich hinter dem Ölberg, knapp drei Kilometer von Jerusalem entfernt. Am 5. April des Jahres 30, drei Tage nach dem Passieren der Stadtgrenze, provoziert Jesus im Tempel, dem Allerheiligsten des jüdischen Volkes, einen Aufruhr. Dort stößt er die Buden und Tische der Händler und Geldverleiher um. Niemand weiß, wie viele von ihnen er ins Chaos stürzt und wie er aus dem Aufruhr aus umherirrenden Tieren, fluchenden Händlern und zornigen Pilgern wieder entkommt.

Eine Tat, welche von den Priestern nicht ignoriert werden kann. Jesus wird urplötzlich zur Gefahr für die Sadduzäer. Erst mit diesem Akt kaum 48 Stunden vor Beginn des Passahfestes macht er sich den Hohepriester Kaiphas zum Todfeind. Kaiphas und Pilatus sind ein seit Jahren eingespieltes, machtbewusstes Tandem. Kaiphas hat das höchste religiöse Amt seit zwölf Jahren inne. Pontius Pilatus ist seit dem Jahr 26 Praefectus Iudaeae. Nach dem Affront im Tempel wird es wohl Kaiphas sein, der Jesus ausschalten will. Todesurteile aber kann nur Pilatus verkünden. Wieso Jesus nicht sofort verhaftet wird, ist nicht klar. Klar scheint nur zu sein, dass Jesus im Angesicht des Todes seine Jünger auf einen Bund einschwört und ihnen die baldige Herrschaft Gottes voraussagt. Klar ist zudem, dass Jesus nicht einen Augenblick daran denkt, nach Galiläa zurückzukehren und dort abzuwarten, bis sich die Aufregung in Jerusalem gelegt hat. Stattdessen geht er noch einmal in den Garten Gethsemane im Kidrontal östlich des Tempels, um zu beten. Dort wird er von einem Trupp der Tempelpolizei verhaftet. Es ist Mitternacht. Noch 15 Stunden.

Der Gefangene wird sofort zu Kaiphas geschleppt. Doch das Synhedrion darf in Kapitalverbrechen keine Urteile sprechen. Also lässt der Hohepriester eine Anklageschrift vorbereiten. Ein paar Stunden später wird Jesus von der Tempelpolizei vermutlich zum Herodes-Palast am heutigen Jaffa-Tor geschleppt, wo Pilatus residiert. Der Vorwurf in der Anklageschrift ist nicht religiöser, sondern politischer Natur: Aufruhr gegen Rom. Die römischen Magistrate sitzen meist am frühen Morgen zu Gericht. Also wird auch Jesus wohl schon beim ersten Dämmerlicht gefesselt vor Pilatus stehen. Er spricht Jesus wohl der seditio (des Aufruhrs) oder der perduellio (des schweren Landfriedensbruches) schuldig. In jedem Fall wird der letzte Satz, den Jesus von Pilatus vernimmt, die Formel gewesen sein: “Du wirst das Kreuz besteigen.” Jesus wird danach sofort, wie es römischer Brauch ist, von den Soldaten des Exekutionskommandos abgeführt. Sie dürfen seine Kleidung behalten; sie verspotten den Verurteilten; sie geißeln ihn mit dem horribile flagellum – einem Lederriemen, der mit Knochenstücken, Stacheln oder Bleiklumpen bestückt ist und tiefe Wunden reißt.

Blutüberströmt und nackt wird er anschließend, mit zwei weiteren Verurteilten, durch die Gassen Jerusalems getrieben. Er trägt den Kreuzbalken. Vor ihm hat ein Soldat den titulus aufgepflanzt, jenes Schild, auf dem das Verbrechen des Delinquenten verkündet wird: INRI, “Jesus von Nazareth, König der Juden”. Vom Palast wird es wohl durch die Oberstadt gehen, hinaus am Gennath-Tor beim Hippikus-Turm, bis nach Golgatha, der “Schädelstätte” – einer Hügelkuppe inmitten eines alten Steinbruchs nördlich der Stadt. Es ist, berichtet Markus, etwa 9 Uhr morgens, als Jesus ans Kreuz genagelt wird. Der Todeskampf – jenes verzweifelte Wechselspiel von Erschöpfung, die den Körper nach unten sacken lässt, und Ersticken, das ihn sich wieder aufbäumen lässt – kann stunden-, manchmal tagelang dauern. Jesus hält sechs Stunden durch. Maria Magdalena und andere Frauen aus seiner Anhängerschaft sind die einzigen Gläubigen, die bis zuletzt bei ihm sind. Sie sind es auch, die Jesus plötzlich rufen hören: “Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” Das ist kein Zeichen der Verzweiflung, sondern der Anfang des Psalms 22, eines jüdischen Sterbegebets. Doch ihm fehlt schon die Kraft, um es noch zu vollenden. “Aber Jesus schrie laut und verschied”, berichtet Markus lakonisch. Es ist ungefähr 15 Uhr am 7. April 30.

Text von Cay Rademacher [GEO, ungekürzter Text]