Lou’s Abschiedsbrief an Rilke vom 26.2.1901

Jetzt wo alles um mich in lauter Sonne und Stille steht und die Lebensfrucht sich reif und süß gerundet hat, kommt mir eine letzte Pflicht aus der uns gewiß Beiden noch theuren Erinnerung, daß ich in Wolfratshausen wie eine Mutter zu Dir trat. Laß mich darum als eine Mutter die Pflicht aussprechen, die ich vor mehreren Jahren infolge einer langen Unterredung Zemek gegenüber einging. Schweifst Du frei in’s Ungewisse, so verantwortest nur Du für Dich selbst; indessen für den Fall, daß Du Dich bindest, mußt Du erfahren, warum ich Dich auf einen so ganz bestimmten Weg zur Gesundheit unermüdlich hinwies: es war Zemek’s Befürchtung eines Schicksals etwa gleich dem von Garschin. Das was Du und ich den “Andern” in Dir nannten, – diesen bald deprimirten, bald excitirten, einst Allzufurchtsamen, dann Allzuhingerissenen, – das war ein ihm wohlbekannter und unheimlicher Gesell, der das Seelisch krankhafte fortführen kann zu Rückenmarkserkrankung oder in’s Geisteskranke. Dies braucht jedoch nicht zu sein! In den “Mönchsliedern”, in manchen Zeiten früher, vorigen Winter, diesen Winter, standest Du heil vor mir! Begreifst Du meine Angst und meine Heftigkeit, wenn Du wieder abglittest, und ich das alte Krankheitsbild wiedersah? wieder den zugleich lahmen Willen neben jähen, nervösen Willenseruptionen, die Deinen organischen Zusammenhang durchrissen, haltlos Suggestionen gehorchten, und nicht untertauchten in die Fülle der Vergangenheit um gesund zu assimiliren, zu verarbeiten, sich selbst vom Grund an aufzubauen! wieder die schwankende Ungewißheit zugleich mit den lauten Accenten und starken Worten und Betheuerungen, voll Wahn-Zwang, ohne Wahrheits-Zwang! Allmählich wurde ich selber verzerrt, zerquält, überangestrengt, ging nur noch automatisch, mechanisch neben Dir, konnte keine volle Wärme mehr dransetzen, gab die eigene Nervenkraft aus! Immer öfter stieß ich endlich Dich fort, – aber daß ich immer wieder mich von Dir an Deine Seite zurückziehen ließ, das geschah jener Worte Zemek’s halber. Ich fühlte: Du würdest genesen, wenn Du nur standhieltest! Doch da kam etwas hinzu, – etwas, fast wie eine tragische Schuld gegen Dich: nämlich der Umstand, daß ich, trotz unseres Altersunterschiedes, seit Wolfratshausen immer noch wachsen mußte, – weiter und weiter wachsen, bis in das hinein, was ich Dir beim Abschied so froh erzählte, – ja, so seltsam es klingt: bis in meine Jugend hinein! denn erst jetzt bin ich jung, erst jetzt darf ich sein, was Andere mit 18 Jahren werden: ganz ich selbst. Darum verlor Deine Gestalt, – in Wolfratshausen noch so lieb und deutlich dicht vor mir, – sich mir mehr und mehr wie ein Einzeltheilchen in einer Gesamtlandschaft, – in einer weiten Wolgalandschaft gleichsam, und die kleine Hütte darin war nicht die Deine. Ich gehorchte ohne es zu wissen dem großen Plan des Lebens, das ein Geschenk über alles Verstehen und Erwarten lächelnd schon bereit hielt für mich. Mit tiefer Demuth nehme ich es entgegen: und weiß nun seherklar und rufe Dir zu: gehe denselben Weg Deinem dunklen Gott entgegen! Er kann, was ich nicht mehr thun kann an Dir, – und so lange schon nicht mehr mit voller Drangabe thun konnte: er kann Dich zur Sonne und Reife segnen. Über weite, weite Fernen schicke ich diesen Zuruf zu Dir, nichts vermag ich mehr als das, um Dich zu behüten vor der “schlechtesten Stunde”, von der Zemek sprach. Drum war ich so bewegt, als ich beim Abschied die letzten Worte aufschrieb auf ein Stück Deines Papiers, weil ich sie nicht aussprechen konnte: ich meinte alle diese Worte.

Lou Andreas-Salome


Ohne Lou Andreas-Salomé wäre Rainer Maria Rilkes Leben anders verlaufen. Als er sie in München, wo er studierte und Kontakte zur literarischen Szene suchte, im Mai 1897 eher zufällig kennen­lernte, umgab die 36-jährige Petersburgerin bereits die Aura einer berühmten Autorin. Man kannte ihre Erzählungen und Romane und ihr Buch über Ibsen, und man wusste, dass die selbstbewusste Intellektuelle einen Heiratsantrag von Nietzsche abgewiesen hatte. Der erste Brief, den Rilke ihr am 13. Mai 1897, am Tag nach der ersten Begegnung schreibt, verrät eine geradezu religiöse Verehrung. Er habe ihren Essay „Jesus der Jude“ als „Offenbarung“ mit „gläubigem Vertrauen“ gelesen, ihn gar als eine „Weihe“ empfangen. Die Apotheose der Angeredeten gehört bekanntlich zum rhetorischen Repertoire von Liebesbriefen, doch Rilke scheint es ungewöhnlich ernst zu meinen: „Ich hab dich nie anders gesehen, als so, daß ich hätte beten mögen zu Dir. Ich habe Dich nie anders gehört als so, daß ich hätte glauben mögen an Dich. Ich hab Dich nie anders ersehnt, als so, daß ich hätte leiden mögen um Dich. Ich hab Dich nie anders begehrt, als so, daß ich hätte knien dürfen vor Dir.“

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