Weihnachten! Ich möchte Dir gern einen großen Weihnachtsbrief schreiben, aber in meiner neuen recht beneidenswerten Eigenschaft als Vater hab ich so viele Pflichten, daß ich Dir nur wenige innige Worte senden kann. Ich glaube, diesmal wirst Du es nicht so traurig und bange empfinden, daß ich zum 24. nicht nach Prag gekommen bin, da Du weißt, daß ich ein eignes Haus und eine liebe Frau und ein kleines Kindchen habe, für die ich wohl einen Christbaum schmücken darf. Ich bin nicht mehr allein!
Das sagt alles! – Ich werde um die Bescherungsstunde im Geiste bei Dir sein! Ich selber muß mit leeren Händen kommen, denn es geht nicht an, daß ich das kleine Buch »Die Letzten« als Gabe anrechne. Möchte es Dich ein wenig freuen, liebe Mama! Außerdem folgen 2 Bilder von uns, die Du Dir gewünscht hast: so sind wir in diesen Stunden auch im Bilde um Dich und Du siehst uns, ein Stück unseres Hauses und unseres Landes wieder. Wie schön zu denken, daß Du das alles kennst! Gerne hätte ich die Bilder rahmen lassen, aber ich kenne die Farbe der roten Peluche nicht und sie sollen doch jedenfalls den Deinen gleich gerahmt werden. Du mußt sie also so aufnehmen.

Rainer Maria Rilke
Weihnachtsbriefe an die Mutter