… kann man am Weihnachtsabend einen Brief lesen; aber vor allem: wie soll man vier Tage vorher einen schreiben, der an diesem Abend gelesen werden kann? Ich schreibe nicht an Ruth. Nicht ich bin es ja, der zu ihr reden soll, auch Du bist es nicht, obwohl Du neben ihr sein wirst und ihr feines weiches Haar an Deiner Wange fühlen wirst, wenn Ihr zusammen in den Baum hineinschauen werdet, der zu Euch reden soll, zu ihr vor allem, dem lieben, lieben Kind, das nun, wenn Du sie wiedersiehst, schon ein wenig weiter an Dir emporreichen wird und tiefer in Deine Hand hinein. Sieh sie gut wieder […] sieh sie nicht allein mütterlich wieder, sieh sie auch mit Deinen ernsten Arbeitsaugen an: dann wirst Du ganz froh sein können. Vor diesen Augen wird dieser Abend vollkommen sein, und es wird Dir, wenn Du Dich nicht verwirren lässt, nicht befremdlich und nicht bange scheinen, dass ich nicht wirklich neben Euch stehe: […] nichts, nichts kann mich ja hindern, um Euch zu sein, so dass Ihr mich empfindet;

Rainer Maria Rilke an Clara Rilke-Westhoff