So nimmt die Zeit, einst Güter der Natur
Dir schönes Kind! Dein Herbst, dein Winter werden kommen
Mit räuberischer Hand. Dann wird, wie von der Flur,
Der Reiz von dieser Wange weggenommen.
Sie lassen dir des Herzens Schönheit nur!
Nur den Verstand heraufgereift, nur Züge
Der Seele, die mit Tugend ausgeschmückt
Nicht von der Zeit, vom Zufall nicht erdrückt,
Bezeuget, daß in ihr der Gottheit Funke liege!
Wann achtzehn Erndten noch vorüber gehn,
Und Krankheit nicht in Dir Verwüstung angerichtet;
Dann ist vielleicht noch dieses Antlitz schön,
Das alle Kunst der Mahlerey zernichtet.

Wann aber funfzig Sommer du gelebt;
Alsdann haucht alle Reize von den Wangen
Die starke Zeit, vor der die Gärten sind vergangen,
Die prächtig in der Luft geschwebt.
Dein äußrer Bau, so künstlich er gewebt,
So fein die Nerven auch sind überzogen worden,
Ist nichtig, muß vergehn; wie Blüten im April,
Wenn nächtlich sie ein Frost kommt in der Knospe morden,
Und wenn ins Leben sie die Sonne wecken will,
Noch ungestalt und welk an Zweige kleben –
Dir aber sollen noch die Jahre Reizung geben.
Dein Geist, der innre Mensch, soll, wirst du älter seyn,
Durch größre Schönheit den erfreun,
Der dir bestimmt, und deiner werth befunden,
Mit dir durchlebet goldne Stunden.
Uns nicht bekannt, ist dieser Jüngling noch.
Du horchst hoch auf, wirst roth, und willst ihn wissen?
Der Himmel kennet ihn, und der wird doch
Dich nicht unedle Lippen lassen küssen.
Nein, fromm und treu, verständig, zärtlich, ernst
Sey der, von dem du leicht mehr Tugenden noch lernst.

Anna Louisa Karsch