… Aber wo meine Gabe nicht hinreicht, da muß die Versicherung sprechen, daß viele viele Wünsche von mir Dein Fest mit Dir feiern und Dich umgeben und für Dich beten in der heiligen Stunde, die wir zusammen erleben, weil wir sie tief gemeinsam fühlen und empfangen. Genieße, liebe Mama, offenen Herzens ihre große Festlichkeit, und laß Dir von ihren sanften Händen alle Sorge aus dem Herzen nehmen. Wer Vertrauen hat ist stark, und diese stille Weihnachtsstunde ist von denen, die Kraft verleihen können, weil sie voll Wunder ist und voll Geheimnis. Und man muß nur still und einsam und geduldig genug sein, um die Gnade einer solchen Stunde in sich aufzunehmen, die in viele nicht eingeht, weil kleines Geräusch in ihnen ist und keine Ordnung. Es liegt schließlich alles daran, daß wir uns an das Große halten, an das, was wir allein in unserem Herzen erleben und was niemand stören kann. Wenn wir uns in den Stunden großer Sammlung und Erhebung sagen, daß das das Leben ist, was sich so zitternd und festlich in uns rührt und unseren Blick blendet mit großen glänzenden, tiefherkommenden Tränen, – dann wird die kleine Wirrnis, die uns umgibt, das Tägliche und Trübe uns nichtmehr irremachen; mit mitleidiger Nachsicht werden wir es ertragen und wenn wir auch leiden unter der Last, sie wird uns nicht geringer machen als Gott uns will, der gerade jene Stunden der Erhebung uns gesetzt hat wie strahlende Stationen des dunklen Weges, auf dem wir ihn suchen!
Nimm, liebste Mama, diese Worte in stiller Stunde als Zeichen und Zeugnis meiner liebevollen Nähe und Gegenwart. Wie wünsche ich, daß der heilige Abend Dich gesund fände und daß alle Verhältnisse in Deiner Umgebung so sind, daß Du gute stille Stunden hast. Nimm innigen Dank für alles Liebe und Gute was Du uns inunsere Einsamkeit sendest und was Du unserer lieben Ruth gesandt hast. Du weißt uns immer wohlzutun und mußt auch wissen, daß wir das von ganzem Herzen fühlen!
In Liebe umarmt Dich, liebe Mama,
Dein René.

Rainer Maria Rilke
Weihnachtsbriefe an die Mutter