Was wir Geist und Seele und Liebe nennen ist das nicht alles nur eine leise Veränderung auf der kleinen Oberfläche eines nahen Gesichtes? Und muss, wer uns das geben will, sich nicht an das Greifbare halten, an das, was seinen Mitteln entspricht: an die Form, die er fassen und nachfühlen kann? – Und weiter: wer alle Formen zu sehen und zu geben vermöchte, würde der uns nicht – fast ohne es zu wissen – alles Geistige geben?
Alles, was je Sehnsucht, Schmerz oder Seligkeit genannt war – Abgründe und Höhen, Himmel und Hölle?
Denn alles Glück, von dem je Herzen gezittert haben; alle Größe, an die zu denken uns fast zerstört; jeder von den weiten verwandelnden Gedanken – es gab einen Augenblick wo sie nichts waren als das Schürzen von Lippen, das Hochziehn von Augenbrauen, – schattige Stellen auf Stirnen – und dieser Zug um den Mund, diese Linie über den Lidern, diese Dunkelheit auf dem Gesicht.

Rainer Maria Rilke