… die Weihnacht und das Fest der Kindlichkeit ist für uns alle schon längst nicht mehr Ausdruck eines Gefühls. Es ist das Gegenteil, ist längst nur noch Ersatz und Talmi-Nachahmung eines Gefühls. Wir tun einmal im Jahre so, als legten wir großen Wert auf schöne Gefühle, als ließen wir es uns herzlich gern etwas kosten, ein Fest unserer Seele zu feiern. Dabei kann die vorübergehende Ergriffenheit von der wirklichen Schönheit solcher Gefühle sehr echt sein; je echter und gefühlvoller sie ist, desto mehr ist sie Sentimentalität.

Sentimentalität ist unser typisches Verhalten der Weihnacht und den wenigen anderen äußeren Anlässen gegenüber, bei denen noch heute Reste der chrstlichen Lebensordnung in unser Tagesleben eingreifen. Unser Gefühl dabei ist dieses: “Wie schön ist doch dieser Liebesgedanke, wie wahr ist es, dass nur Liebe erlösen kann! Und wie schade und bedauerlich, dass unsere Verhältnisse uns nur einen einzigen Abend im Jahr den Luxus dieses schönen Gefühls gestatten, dass wir sonst jahraus jahrein durch Geschäfte und andere Sorgen davon abgehalten sind!” Dies Gefühl trägt alle Merkmale der Sentimentalität.

Denn Sentimentalität ist das Sich-Erlaben an Gefühlen, die man in Wirklichkeit nicht ernst genug nimmt, um ihnen irgendein Opfer zu bringen, um sie irgend je zur Tat zu machen. Wenn die Pfarrer und Frommen klagen, dass der Glaube und damit das Glück aus der Welt geschwunden sei, so haben sie recht. Unser Verhalten gegen alle wirklichen Werte des Menschen ist von einer Barbarei und Rohheit, wie sie die Welt seit Jahrhudnerten nicht mehr gesehen hat. Dies zeigt sich in unserem Verhalten zur Religion, in unserem Verhalten zur Kunst, in unserer Kunst selber.

Denn die beliebte Meinung, dass die Kunst des modernen Europa auf einer ungeheuer hohen Stufe stehe, ist ebenso ein Irrtum der Bildungsphilister wie die Meinung vorm Vorhandensein einer hochstehenden und Respekt verdienenden ‘Kultur’ unserer Zeit. Der ‘Gebildete’ von heute verhält sich zur Lehre Jesu so, dass er das ganze Jahr hindurch an sie nicht denkt und nach ihr nicht lebt, dass er aber am Weihnachtsabend einer vagen wehmütigen Kindererinnerung nachgibt und ein wenig in zahmen, wohlfeil-frommen Gefühlen schwelgt, ebenso wie er noch ein- oder zweimal im Jahre, etwa bei Aufführung der Matthäuspassion, dieser zwar längst verlassenen, dennoch aber noch unheimlichen und im Verborgenen mächtigen Welt seine Reverenz macht.

Ja, das alles gibt man zu, jedermann weiß es, und jeder weiß auch, dass es traurig ist. Schuld daran sind politische und ökonomische Entwicklungen, sagt man, schuld ist der Staat, schuld ist der Militarismus, und so weiter. Denn irgend etwas muss ja doch schuld sein. Kein Volk hat “den Krieg gewollt”, ebenso wie kein Volk den Vierzehnstundentag, die Wohnungsnot und die Kindersterblichkeit “gewollt” hat. Ehe wir wieder Weihnacht feiern und das Ewige und einzig Wichtige in uns mit einem verlogenen Ersatzartikel von Gefühl abspeisen, sollten wir uns lieber dieses ganzen Elendes recht bewusst werden, auch wenn es zur Verzweiflung führt….

Hermann Hesse