Hier ist, liebe Mama, der Gruß unserer gemeinsamen Sechs-Uhr-Stunde, der immer gleiche, von Jahr zu Jahr getreue. Möge er Dich in der tiefen freudigen Innerlichkeit finden, in der wir seit je diesen Augenblick begangen haben, der der zuversichtlichste des Jahrs zu sein verdient.
So laß uns, liebe Mama, auch heute, wie seit Jahrzehnten, wie in meiner kleinsten Kindheit, staunend und freudig vor diesem heiligen Geheimnis vereinigt sein: wie sehr der gute Papa das Geschenkzimmer vorzubereiten wußte, so daß das Kinderherz hoch aufschlug beim Aufspringen der Flügeltür und meinte, wie von einer Welle der Erfüllung überwältigt zu sein.
Die Erscheinung des lieblichen Wunders durfte kleiner, geringer werden, weil wir dahingekommen sind, über dem mindesten Zeichen seiner Gegenwart, den ganzen Glanz in uns, in unserem festlichen, geordneten Gemüt wahrzunehmen. Die Bescherung hat draußen nur ein Tischchen für sich, aber die lange Tafel der Erfüllungen steht nun in unserem Herzen, umgeben von einem Glanz, der auch noch die Erinnerung an den schönsten Christbaum der Kindheit übertrifft.
In dieser Zuversicht, liebe Mama, sei unter den Weihnachtslichtern herzlich umarmt von Deinem alten – in der gleichen Stunde feierlich Dein gedenkenden –

René

Rainer Maria Rilke