16september016

“Bist geworden älter, bist geworden kälter!”
Sag’ ich oft zu mir;
“Laß es dich nicht grämen, nicht den Mut dir lähmen, kannst ja nicht dafür!
Jeder Tag verglühet, jeder Lenz verblühet, jede Stimme bricht,
Jede flücht’ge Stunde schlägt uns eine Wunde: Wir nur merken’s nicht.
Erst wenn tausend bluten, will es uns gemuten, daß die Kraft doch litt;
Stein und Erz verwittert, Eich’ und Zeder splittert,
Und wir altern mit.” –
Das fühl’ ich mit Schmerzen oft so klar im Herzen,
Bin so ernst, so still, daß ich einen Schleier
Über meine Leier scheidend breiten will. –
Und doch – wenn ich wieder hoch von Alpen nieder ausblick’ in die Welt;
Wenn ich in das Blaue schwindelnd aufwärts schaue, das der Mond erhellt;
Wenn aus heil’gen Hallen Orgelklänge schallen,
Wenn der Wildbach braust;
Wenn die Wolkenfalten blaue Blitze spalten;
Wenn der Hochwald saust;
Wenn ich, froher Dinge, Freundesbrust umschlinge,
Mensch mit Menschen bin;
Wenn’s in muntren Kreisen schallt von kräft’gen Weisen,
Dann erwacht mein Sinn.
Dann wohl fühl’ ich’s schlagen wie in frühern Tagen,
Manches meldet sich;
Und das Aug’ wird heller, und der Puls wird schneller,
und ich fühle mich.
Und mir sagt’s ein Sehnen: “Laß solch eitles Wähnen;
Bist nicht, was du scheinst!
Du wardst noch nicht älter, du wardst noch nicht kälter,
Bist noch jung wie einst!”

Johann Gabriel Seidl