Meine liebe Mama;
Diesmal war mir der Geburtstag ein wahres Fest, da er durch Deinen lieben Drathgruß eingeleitet ward. Und ich habe an diesem Tage viel an Dich gedacht und mich gesehnt in stiller Dämmerstunde mit Dir zu plaudern. Ich
war einsam den Tag über; nicht ganz aus Nothwendigkeit, sondern weil die Einsamkeit mir meine liebste Freundin ward und ich mich so wohl fühle, wenn sie mit kühlen Feierabendhänden meine wünschefiebernde Stirne streicht.
Ich bin in der Zeit meines Fernseins um zwei Körperjahre, geistig wohl um ?? ältergeworden. Geistig älter werden heißt reifen. Reifen heißt ruhiger werden, ruhig sein – Gott sein. Und daß ich ruhiger ward, spiegelt sich in jenem wellenblanken Bach, der, stete Labe, neben Stein und Staub meines Wandelwegs blinkt: meinem Schaffen. Wenn ich mein Drama »Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens«, (welches Sommers am »Deutschen Volkstheater« großen Erfolg gewann,) neben eine der späteren Arbeiten lege, glaube ich zu empfinden, daß ich über das Ungesunde, Zersetzende meines »Sturm und Drang« hinaus bin, ohne dabei der Jugend jubelhelles Junifeuer eingebüßt zu haben, das helle Opfer flammt zu den Johannisnachtsternen.…
Auf Wiedersehn!
Dein Rene

Rainer Maria Rilke