Meine liebe gute Mama

wieder führt sich das schöne gütevolle Fest bei uns ein und ich überlasse mich meiner Gewohnheit, es, in der verabredeten Stunde, über die Schwelle Deines Herzens zu geleiten, wo Du ihm selbst einen geschmückten und innigen Raum (den stillsten) vorbereitet hast. Sei der Segen der heiligen Nacht in Deinem ruhigen Zimmer. Ich versuche es, Dir geistig so nahe zu sein, wie ich es als Kind mit meinem völligen Wesen war, wenn wir nebeneinander knieten, um dann überschüttet von Glocken, dem überirdisch erstrahlten Ziel entgegenzudrängen. So sehr war durch die Mühe des guten Papas, jene Freude zu groß für mein unerwachsenes Herz, daß ich heute noch unerschöpfte Ströme von ihr in meinem Wesen entdecke, sowie ich nur jener Erinnerung eine Weile lang nachgebe.

Auch ist mir kein Weihnachten, wo es auch war, vergangen ohne daß es hinter meinen geschlossenen Augen für eine Sekunde unbeschreiblich hell wurde und wundersam bewegt. Kommt doch alles Lichte meiner Kindheit in jenen glücklichen Abenden zusammen, da man, in dem schönen Kleide, gleichsam den Engeln verschwistert war und sich zwischen ihnen und der übrigen Welt auf einer schwebenden Insel erhielt, zu der einen die Leichtheit des eigenen Herzens hinaufgehoben hatte.

Ein freundliches, stilles, hoffnungsreiches Fest!

Dein alter René

Rainer Maria Rilke