Weihnachten 2016

Meine liebe gute Mama,

wir haben nie viel geredet unter dem Christbaum. So soll es auch heute sein, zumal das Reden auf dem Papier nicht einmal die Illusion von Nähe hervorruft. Und die sollst Du haben, d. h. mehr als die Illusion, – die Sicherheit, dass ich Dir nahe bin an diesem Abend, den Du mir, seit ich ihn zum ersten Mal erlebte, geschmückt und durch Beweise Deiner Liebe und Güte reich gemacht hast! Und Du sollst mich nahe  empfinden, weil  ich  Dir  mein  neues  Buch schenke und auf diese Weise mit dem Besten, was ich bis jetzt errungen habe und geworden bin, zu Dir komme, mit viel mehr als nur mit meinem Körper und Gesicht, mit viel mehr als meiner Seele: – mit einer Potenz meiner Kraft und Liebe, mit einem Teil meiner tiefen Frömmigkeit, mit einem Stück meiner Zukunft. – Das Buch »Vom lieben Gott« … ist alles das. Nimm es gut auf  und  lass es das vollbringen am Heiligen Abend, was ich hier wünsche. Erkenne mich darin, liebe Mama.

Ich sage nicht mehr, – ich lege nur einfach mein Buch unter den kleinen Christbaum, oder dort auf das kleine Tischchen, wo die singenden Engel stehen und wo Du mir im vorigen Jahr die Fülle Deiner Gaben ausgebreitet hast. Siehst Du, man kann es ruhig aussprechen, denn ich bin wieder da, wie im Vorjahr, nur nicht gehetzt, nicht zu bestimmter Stunde kommend oder forteilend, ich bin an diesem Abend ganz leise überall in Deiner Stube, ohne Hast und voll teilnehmender Liebe. Und ich gehe nur fort, wenn Du anfängst traurig zu sein … Aber das tust Du nicht, nicht wahr – denn: Mein Buch ist voll Zuversicht und Licht!

Nimms gut auf und fühle tausend Küsse

Deines René.

Und seine Gegenwart!

Rainer Maria Rilke