Weihnachten 2013

Meine liebe gute Mama,

nun kommen wir zum Weihnachts-Abend. Leider nur aus großer Ferne, aber mit allen besten und innigsten Wünschen und Gedanken! Wie geht es Dir, liebe Mama? Mir ist, als hätte ich lange nichts von Dir gehört; und das ist freilich auch meine Schuld, denn ich habe selbst schon wieder lange nicht geschrieben, nicht wahr? Aber ich war die letzte Zeit ganz ungewöhnlich stark in Arbeit, so dass ich alles, was eintraf (auch Liebes und Wichtiges) unbeantwortet lassen musste. Verzeih mir. Ich habe Dir noch nicht einmal gedankt für das schöne Kleidchen zu Ruth’s Geburtstag, wie gut es dort aufgenommen worden ist und dass Ruth es getragen hat. Sie trägt es nun gewiss zu allen festlichen Anlässen, wird es also  auch  am  Weihnachtsabend anhaben. Du kannst Dir denken wie sehnsüchtig wir jetzt an allen diesen Tagen an unser liebes Kind gedacht haben, und wie wir uns dieser Zeit vom vorigen Jahr erinnert haben, wo wir alle drei zum ersten Mal beisammen waren um einen großen Baum und bei vielen schönen Sachen in der festlichen Stille unseres lieben Hauses. Diese Weihnachten werden für uns nicht ohne Traurigkeit sein. Wir feiern sie gar nicht, wir leben so weiter wie bisher, erholen uns nur vielleicht zwei, drei Tage ein wenig und denken noch mehr als sonst nach Oberneuland. Dorthin haben wir eine kleine Kiste mit meist praktischen Kleinigkeiten gesandt und Mama Westhoff muss das übrige tun, Ruth ein gutes Weihnachten zu schaffen, und alle Wünsche zu erfüllen, die sie ihrem kleinen Gesichte ablesen kann. Wir werden auch an Dich denken liebe Mama. Möchte Deine Gesundheit Dir erlauben, den Tag in stiller Sammlung und Festlichkeit zuzubringen. Hoffentlich ist es im Hause sonst nicht erregt oder verstimmt, so dass auch von außen keine Störung an Deinen Frieden kommt. Wir erflehen für Dich Gesundheit und gute Tage und nehmen wie aus der Nähe an Deinem Heiligen Abend innig teil! Ich muß, liebe Mama, mit ganz leeren Händen zu Dir kommen. Es war erst nicht so gemeint. Ich gedachte Dir die Arbeit dieses Jahres, die große Monographie Worpswedes auf den Weihnachtstisch zu legen. Und nun eben erst erfahre ich, dass das Buch durch Verzögerungen der Druckerei nicht fertig geworden ist. Das macht mich sehr, sehr traurig, aber ich bin an dieser Verspätung ganz unschuldig und bitte Dich, sie mir nicht anzurechnen! Nimm also nur die Ankündigung dieses Buches (das Dir, wie ich hoffe, ein wenig Freude machen wird) zu Deinem Weihnachtstisch. Das Buch selbst folgt dann so bald als möglich, vielleicht noch im Laufe des Dezember, nach und sei schon heute um eine gute Aufnahme seiner gebeten. Nun als wir erfuhren, dass die Monographie nicht fertigwerden  wird,  dachten  wir  immerfort  daran,  Dir  eine kleine Freude zu machen. Wir haben aber gar nichts gefunden, nur einen kleinen Kalender und ein kleines Notiz-Büchlein lege ich für Dich diesem Briefe bei, weil man diese Dinge braucht und oft zur Hand nimmt und weil ich weiß, dass Du für so etwas immer Verwendung hast.

Wie ist das Wetter? Nach großer Kälte ist es hier wieder sehr warmgeworden; die Leute sitzen vor den Kaffeehäusern und in den Gärten, aber es ist feucht und traurig und gar nichtweihnachtlich. Die Leute machen hier meistens auch keine Weihnachtsbäume und ihre ganze Feier besteht im Essen großer Gänse . . . Clara dachte auch immer, wie sie Dich irgendwie freuen könnte. Sie bittet Dich auch uns irgendeinen Wunsch zusagen, den wir Dir zusammen erfüllen können!

Und nun liebe, gute Mama gutes, gutes Weihnachten. Wie immer an diesem Abend werde ich Dir auch diesmal innig und liebevoll nahe sein, besonders nahe.

Es umarmt Dich

Dein René.

Rainer Maria Rilke