Wie jedes Jahr um diese Zeit steigen wieder verlockende Reisepläne vor mir auf. Warum nicht dem Herbst entrinnen und den Winter kürzen, da es doch wärmere Länder, Eisenbahnen und Schiffe gibt? Nachdenklich hole ich den Globus und dann eine Karte von Italien her, suche den Gardasee, die Riviera, Neapel, Korsika und Sizilien.
Da ließe sich die Zeit bis Weihnachten verbringen! Sonnige Felsenstrandwege am blauen Meer, laue Stunden auf süditalienischen Küstendampfern und in Fischerbarken, ernste Palmenwipfel, in der tiefen Mittagsbläue ruhend.
Es wäre nicht übel, immer vor dem Herbst her einige Meilen südwärts zu fahren und dann mitten im Winter sonnenverbrannt in die heimische Ofenbehaglichkeit zurückzukehren. Die Landkarte da unten wimmelt von schönklingenden Namen schöngelegener Städte und Dörfer, die ich noch nicht kenne und die mir Tage des Wohlseins und Schwelgens versprechen, und die ganze Reise ist, sobald ich sie auf dem Globus ausmesse, erstaunlich klein und bescheiden. Vielleicht könnte ich, der Wärme nachgehend, noch einen Aufenthalt in Afrika machen, in Constantine oder in Biskra Kameltouren unternehmen, Negermusik anhören und türkischen Kaffee trinken und den Faltenwurf an den Gewändern der Beduinen und Araberfrauen betrachten?
Wie schön solche Pläne einen leeren Abend füllen! Eine Landkarte, ein paar alte Kursbücher und ein Bleistift – wie man sich damit die Zeit vertreiben, einen Ärger vergessen und sich die Phantasie mit lauter reizenden Vorstellungen füllen kann.
Wie jedes Jahr um diese Zeit suche ich die Karte nach warmen, herrlichen Gegenden ab, studiere die Schiffslinien und die Fahrpreise. Und wie jedesmal bleibe ich hier und reise nicht. Was mich zurückhält, ist ein sonderbares Schamgefühl. Es will mir unrecht scheinen, den rauhen Tagen zu entfliehen, nachdem ich die schönen genossen habe. Vielleicht ist es auch nur ein gesetzmäßiges Bedürfnis der Natur, daß sie nach Monaten der Wärme, der Farben, nach dem Überfluß an Behagen, Schönheit und starken Eindrücken müde wird und nach Kühle, Rast und Beschränkung verlangt. Es ist nun einmal nicht das ganze Jahr Sommer, so soll man auch nicht ohne Not ihn künstlich verlängern wollen.
Ein paar unentschiedene und unzufriedene Tage, dann haben diese Erwägungen Macht gewonnen, und der Herbst beginnt mir lieb zu werden. Wie konnte ich ans Fortreisen denken, da ich doch von so vielen Dingen, die mir lieb sind und denen ich Dank schulde, Abschied nehmen muß.

Hermann Hesse