
Die ukrainische Armee will das umkämpfte Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk in der Region Luhansk nicht an die russischen Truppen verloren geben. „Die Lage ist schwierig, aber sie ist besser als gestern. Und sie ist unter Kontrolle“, sagte der stellvertretende Generalstabschef Olexij Hromow heute in der Hauptstadt Kiew. Zuvor hatten die ukrainischen Behörden mitgeteilt, die Großstadt sei größtenteils unter Kontrolle russischer Truppen.
Die russischen Truppen erobern Gebäude für Gebäude die strategisch wichtige Industriestadt Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine. Sie kontrollierten mittlerweile „80 Prozent der Stadt“, erklärte Regionalgouverneur Serhij Gajdaj in der Nacht auf Donnerstag. Der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj erklärte, dass seine Soldaten in Luhansk mit der derzeit „schwierigsten Situation“ konfrontiert seien.
„Der Feind hat einen operativen Vorteil in Bezug auf die Artillerie“, räumte er laut Kiew in einem Telefongespräch am Mittwoch mit seinem französischen Kollegen Thierry Burkhard ein. Er plädierte dafür, seine Truppen „so schnell wie möglich“ auf Waffentypen der Nato umzustellen. „Das würde Leben retten.“ Die Ukraine hofft auf die kürzlich vom US-Präsidenten Joe Biden versprochenen Mehrfachraketenwerfer, die eine größere Reichweite und Präzision versprechen. Es gebe sehr blutige Straßenkämpfe in der Stadt, sagte Hromow. Sjewjerodonezk gilt als letzte große ukrainische Hochburg in der Region Luhansk. Prorussische Truppen und das russische Militär stehen dort nach eigenen Angaben kurz vor der Machtübernahme. „Rund 20 Prozent unseres Territoriums sind nun unter Kontrolle der Besatzer“, so der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Das von Russland eingenommene Territorium sei bei weitem größer als die Fläche aller Benelux-Staaten zusammen, sagte Selenskyj in einer Ansprache vor dem Parlament in Luxemburg. Das Gebiet umfasse fast 125.000 Quadratkilometer, vor dem 24. Februar seien es gut 43.000 Quadratkilometer gewesen.
Im Osten des Landes werde die Lage immer schwieriger: „Wir verlieren täglich 60 bis 100 Soldaten.“ Seit Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar wurden tausende Menschen getötet und mehrere Millionen Ukrainer in die Flucht getrieben. Die Ukraine erwägt die Abschaltung des Atomkraftwerkes Saporischschia, dessen Umgebung von russischen Truppen kontrolliert wird. Sollten die ukrainischen Behörden die Kontrolle über den Betrieb des AKW verlieren, soll die Abschaltung erfolgen, zitiert die Nachrichtenagentur Interfax einen Regierungsberater. Die Anlage liegt im Südosten der Ukraine und ist das größte Atomkraftwerk in Europa.
In der Ukraine haben mehrere Regionen in der Nacht zum Donnerstag und am frühen Morgen Luft- und Raketenangriffe gemeldet. „Vier feindliche Marschflugkörper wurden abgefeuert. Sie wurden vom Schwarzen Meer aus abgeschossen“, bestätigte der Chef der Militärverwaltung im westukrainischen Lwiw, Maxym Kosytzkyj, am Donnerstag auf seinem Telegram-Kanal. Demnach richtete sich der nächtliche Raketenangriff gegen Eisenbahnobjekte in den Kreisen Stryj und Sambir. Explosionen waren am Morgen auch in der Hafenstadt Odessa, im Süden der Ukraine, zu hören. Während Kosytzkyj von fünf Verletzten sprach, haben die Behörden zu den Angriffen in Odessa noch keine Angaben gemacht. Der Sprecher der regionalen Militärverwaltung, Serhij Bratschuk, bestätigte zwar einen Luftalarm, warnte aber zugleich lokale Medien vor der Veröffentlichung von Schadensmeldungen, bevor es öffentliche Verlautbarungen dazu gebe.
Im Norden der Ukraine haben die Behörden derartige Angaben schon veröffentlicht. So teilte der Gouverneur des Gebiets Sumy, Dmitro Schywytzkyj, auf seinem Telegram-Kanal mit, dass durch Raketenbeschuss im Kreis Krasnopilja ein Wohnhaus völlig zerstört und drei Menschen verletzt worden seien. Im benachbarten Gebiet Charkiw sind nach Angaben von Gouverneur Oleh Synehubow eine Frau getötet und eine weitere Person verletzt worden. Der nächtliche Beschuss habe eine Schule im Charkiwer Stadtteil Saltiwka getroffen.
Nato-Generalsekretär erwartet langen „Abnutzungskrieg“ in der Ukraine
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat die westlichen Staaten dazu aufgerufen, sich auf einen langen „Abnutzungskrieg“ in der Ukraine einzustellen. „Was wir sehen, ist, dass dieser Krieg mittlerweile zu einem Abnutzungskrieg geworden ist“, sagte der Norweger nach einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden in Washington. „Darauf müssen wir uns auf lange Sicht einstellen.“
Der Krieg „könnte morgen enden, wenn Russland seine Aggression beendet“, hatte Stoltenberg am Mittwoch bei einer Pressekonferenz zusammen mit US-Außenminister Antony Blinken gesagt. Aber „wir sehen derzeit keine Anzeichen in diese Richtung“. Die Kämpfe in der Ukraine dürften noch „viele Monate“ anhalten, sagte Blinken.
Russische und ukrainische Truppen ringen um die Kontrolle des Donbass. Der ukrainische Präsident Selenskyj berichtet von 100 Toten und 400 bis 500 Verletzten am Tag.
Baerbock: Ukraine gehört in die EU
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine für einen nächsten Schritt in der europäischen Integration plädiert. Zu einem EU-Kandidatenstatus der Ukraine werde die Europäische Kommission gemeinsam einen Vorschlag machen, sagte Baerbock beim WDR-Europaforum. Mit Blick auf die Ukraine müsse deutlich gemacht werden: „Es reicht nicht zu sagen, Ja, ihr gehört zu Europa, sondern ihr gehört in die Europäische Union.“ Es werde aber keinen schnellen Beitrittsprozess und auch „keinen Rabatt“ für die Ukraine geben. Die Ukraine betrachtet sich nach den Worten ihres Präsidenten Wolodymyr Selenskyj schon jetzt als Teil der Europäischen Union. „Die Ukraine ist bereits de facto Mitglied der EU geworden“, sagte Selenskyj am Donnerstag in einer Videoansprache vor dem luxemburgischen Parlament. „Ich glaube, dass die Ukraine bereits durch ihr Handeln zeigt, dass sie die europäischen Kriterien erfüllt.“ Selenskyj zeigte sich überzeugt, dass sich Luxemburg dafür einsetzen werde, im Juni den offiziellen Status eines EU-Beitrittskandidaten zu erhalten und «in einem beschleunigten Verfahren EU-Mitglied zu werden». „Europa steht vor einem großen Test. Ist Europa fähig, seine Werte zu verteidigen?“, sagte der ukrainische Präsident.
Ohne den russischen Präsidenten Wladimir Putin namentlich zu erwähnen, sagte er: „Man muss diesen einzelnen Menschen daran hindern, die europäischen Werte zu zerstören. Wenn es uns nicht gemeinsam gelingt, diesen Mann zu stoppen, dann sind dies dunkle Stunden. Dunkle Stunden, die wir bereits im Zweiten Weltkrieg erlebt haben.“ Selenskyj forderte weitere Sanktionen der EU gegen Russland und die Lieferung von „mehr Waffen, modernen Waffen“. Der russische Angriff auf die Ukraine sei eine „Katastrophe von globalem Ausmaß, die uns an den Zweiten Weltkrieg erinnert, als die Bedrohung durch die Nazis auf ganz Europa lastete“.
EU verzichtet auf Druck Ungarns auf Sanktionen gegen Patriarch Kirill
Die EU verzichtet wegen des ungarischen Widerstands vorerst auf Sanktionen gegen das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt Patriarch Kirill. Das sechste EU-Sanktionspaket, in dem auch ein weitgehendes Öl-Embargo enthalten ist, wurde am Donnerstag von Vertretern der EU-Staaten ohne die eigentlich gegen Kirill geplante Strafmaßnahme gebilligt, wie mehrere Diplomaten bestätigten. Die französische EU-Ratspräsidentschaft setzt auf ein schnelles Ende von Ungarns neuer Blockade gegen geplante Russland-Sanktionen. Wie die Ratspräsidentschaft mitteilte, wird am Nachmittag bei einem Treffen der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten erneut versucht, eine abschließende Einigung auf das mittlerweile sechste Sanktionspaket der EU gegen Russland zu erzielen. Plan der EU war es eigentlich, die Rechtstexte für die Strafmaßnahmen bereits am Mittwoch zu billigen. Zuvor war in der Nacht zum Dienstag nach wochenlangem Streit bei einem Gipfeltreffen eine Einigung im Streit über das vorgesehene Öl-Embargo erzielt worden. Ungarn setzte dabei durch, dass Öllieferungen per Pipeline zunächst von dem Einfuhrstopp ausgenommen werden. Am Mittwoch forderte Ungarn nach Angaben von Diplomaten dann überraschend weitere Änderungen. So verlangte das Land insbesondere, auf die geplanten Strafmaßnahmen gegen das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt Patriarch Kirill zu verzichten.
Anna Netrebko bekennt sich zu Russland – und distanziert sich von Putin
Die russische Operndiva Anna Netrebko bekennt sich trotz des russischen Kriegs gegen die Ukraine zu ihrem Heimatland. „Ich liebe mein Land, meine Kultur, die Menschen. Ich finde es nicht richtig, was dort jetzt gerade passiert, aber ich bleibe eine Russin“, sagte die 50-jährige Sängerin in einem Interview der Wochenzeitung „Die Zeit“. Zugleich bestritt sie erneut eine ihr nachgesagte Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin und verurteilte den russischen Angriffskrieg. „Ich bin natürlich gegen diese schreckliche Gewalt“, sagte sie. „Ich kenne viele Schicksale, Menschen, die bombardiert wurden, Menschen, die flüchten mussten, alles. Darüber sprechen wir viel miteinander, denn es bewegt mich zutiefst. Aber ich kann nichts an dieser Situation ändern.“ Die unter anderem in Wien lebende Netrebko war wegen ihrer zunächst zögerlichen Haltung zum Krieg und einer angeblichen Nähe zu Putin in die Kritik geraten. Mehrere Opernhäuser hatten Auftritte von ihr abgesagt. Die Sopranistin bekräftigte in dem Interview, sie habe den russischen Präsidenten nur „ein paar Mal“ persönlich getroffen.
Quelle: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-russland-konflikt-blog-100.html