Ich möchte Dir sagen, liebe Lou, daß Paris eine ähnliche Erfahrung für mich war, wie die Militärschule; wie damals ein großes banges Erstaunen mich ergriff, so griff mich jetzt wieder das Entsetzen an vor alledem was, wie in einer unsäglichen Verwirrung, Leben heißt. Damals als ich ein Knabe unter Knaben war, war ich allein unter ihnen; und wie allein war ich jetzt unter diesen Menschen, wie fortwährend verleugnet von allem was mir begegnete; die Wagen fuhren durch mich durch, und die welche eilten, machten keinen Umweg um mich und rannten voll Verachtung über mich hin wie über eine schlechte Stelle in der altes Wasser sich gesammelt hat. Und oft vor dem Einschlafen las ich das 30. Capitel im Buche Hiob und es war alles wahr an mir, Wort für Wort. Und in der Nacht stand ich auf und suchte meinen Lieblingsband Baudelaire, die petits poèmes en prose, und las laut das schönste Gedicht, das überschrieben ist A une heure du matin . Kennst Du es ? Es beginnt: Enfin! seul! On n`entend plus que le roulement de quelques fiacres attardès et èreintès. Pendant quelques heures nous possèderons le silence, sinon le repos. Enfin! La tyrannie de la face humain a disparu, et je ne souffrirai plus que par moi-mème…. und es endet groß; steht auf, steht und geht aus wie ein Gebet. Ein Gebet Baudelaires; ein wirkliches, schlichtes Gebet, mit den Händen gemacht, ungeschickt und schön wie das Gebet eines russischen Menschen. – Er hatte einen weiten Weg dazu hin, Baudelaire, und er ist ihn kniend und kriechend gegangen. Wie war er mir fern in allem, meiner Fremdesten einer; oft kann ich ihn kaum verstehen und doch manchmal tief in der Nacht, wenn ich seine Worte nachsprach wie ein Kind, da war er mein Nächster und wohnte neben mir und stand bleich hinter der dünnen Wand und hörte meiner Stimme zu, die fiel. Was für eine seltsame Gemeinsamkeit war da zwischen uns, ein Theilen von allem, dieselbe Armuth und vielleicht dieselbe Angst.
Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomè, Juli 1903, Worpswede bei Bremen