Meine teure Mama,
erst am 24., in der uns teuren stillen Stunde sollst Du diese Zeilen lesen, die Dir Zeugnis sein sollen meiner herzlichen Gegenwart an Deinem Weihnachts-Abende. Nur mit einer kleinen Gabe kann ich kommen, aber mit einer, die mich Dir wirklich nahe bringt und macht, dass ich wo Du auch seist Dich begleiten kann und vor Dir stehen kann mit meiner lieben Frau immer wenn Du es willst, wie bei unserem jüngsten Karlsbader Wiedersehen! Du hast einen diesbezüglichen Wunsch einmal, während wir in Paris waren, ausgesprochen; damals konnte ich ihn nicht erfüllen, aber ich habe ihn, wie Du siehst, nicht vergessen und wünsche nun von Herzen, dass das Bild Dir gefiele und Dir wirklich das Gefühl unserer Gegenwart gäbe an jenem Heiligen Abend und immer, später, wenn es vor Dir steht. Wir dachten daran, dem Bilde einen Rahmen mitzugeben und hätten es gerne getan; aber ich weiß, dass Du es am liebsten mit Deinem gewohnten Sammet umkleidest, da-mit es zu Deinen anderen Bildern passe, und diesen Rahmen wage ich hier nicht zu bestellen, da ich weder die Nuance des Samtes kenne noch weiß, wo hier derartiges gemacht wird. Auch hätte die Einrahmung die Sendung des Bildes erschwert und kompliziert, – und so sende ich es denn mit der Bitte um Nachsicht, so wie es ist, bittend, Du mögest es gut aufnehmen und die Geringheit unserer Gabe mit der Art entschuldigen, wie sie gegeben und gemeint ist! Das Christkind, das Du mir zugedacht hast, fällt ja viel, viel reicher aus, nach allem was Du mir schon davon geschrieben hast, als das was ich Dir bereiten möchte! Aber wo meine Gabe nicht hinreicht, da muss die Versicherung sprechen, dass viele, viele Wünsche von mir Dein Fest mit Dir feiern und Dich umgeben und für Dich beten in der heiligen Stunde, die wir zusammen erleben, weil wir sie tief gemeinsam fühlen und empfangen. Genieße, liebe Mama, offenen Herzens ihre große Festlichkeit, und lass Dir von ihren sanften Händen alle Sorge aus dem Herzen nehmen. Wer Vertrauen hat ist stark, und diese stille Weihnachtsstunde ist von denen, die Kraft verleihen können, weil sie voll Wunder ist und voll Geheimnis. Und man muss nur still und einsam und geduldig genug sein, um die Gnade einer solchen Stunde in sich aufzunehmen, die in viele nicht eingeht, weil kleines Geräusch in ihnen ist und keine Ordnung. Es liegt schließlich alles daran, dass wir uns an das Große halten, an das, was wir allein in unserem Herzen erleben und was niemand stören kann. Wenn wir uns in den Stunden großer Sammlung und Erhebung sagen, dass das das Leben ist, was sich so zitternd und festlich in uns rührt und unseren Blickblendet mit großen glänzenden, tiefherkommenden Tränen, – dann wird die kleine Wirrnis, die uns umgibt, das Tägliche und Trübe uns nichtmehr irremachen; mit mitleidiger Nachsicht werden wir es ertragen und wenn wir auch leiden unter der Last, sie wird uns nicht geringer machen als Gott uns will, der gerade jene Stunden der Erhebung uns gesetzt hat wie strahlende Stationen desdunklen Weges, auf dem wir ihn suchen! Nimm, liebste Mama, diese Worte in stiller Stunde als Zeichen und Zeugnis meiner liebevollen Nähe und Gegenwart. Wie wünsche ich, dass der Heilige Abend Dich gesund fände und dass alle Verhältnisse in Deiner Umgebung so sind, dass Du gute stille Stunden hast. Nimm innigen Dank für alles Liebe und Gute was Du uns in unsere Einsamkeit sendest und was Du unserer lieben Ruth gesandt hast. Du weißt uns immer wohlzutun und musst auch wissen, dass wir das von ganzem Herzen fühlen!
In Liebe umarmt Dich, liebe Mama,
Dein René.
Rainer Maria Rilke