Die wichtigste CD der Woche …

Diese Stimme gehört nicht Kate Bush, sondern ihrem 13-jährigen Sohn Albert. Albert, genannt “Bertie” spricht die Schneeflocke, die über neun Minuten und 47 Sekunden ihre Reise von der Wolke bis zum winterlichen Boden antritt. “Snowflake” ist der erste von nur sieben Titeln auf Kate Bushs neuem Album.
“50 Words For Snow” ist trotz seiner winterlichen Ruhe ein radikales Album, vielleicht sogar das radikalste Kate-Bush-Album seit “The Dreaming” von 1982.
2011 besteht Kate Bushs Radikalität vor allem in ihrer Ruhe. Der erste richtige Beat dieses Albums setzt etwa bei Minute 35 ein. Zuvor gibt es den Fallgesang eingangs erwähnter Schneeflocke, eine knapp 14-minütige Sexgeschichte mit einem Schneemann, die erwartet tragisch endet, und den Eiswasserleichensong “Lake Tahoe”, der einem Schubertschen Kunstliedzyklus zu entstammen scheint…
“50 Words For Snow”, dieses – sagen wir – Konzeptalbum über winterliche Mythen nimmt sich bei allem, was es tut, unendlich viel Zeit. Ruhige Erzählflüsse, erstaunlich klar formulierte Lyrik, dazu an Keith Jarrett gemahnende Pianokaskaden. Feine Geigenarrangements, Tupfer von Gitarren, Trommeln, organisch brummende Bässe. Manchmal hält ein Song einfach für einige Sekunden an, um einen Schwarm winterlicher Krähen am grauen Himmel passieren zu lassen.

“50 Words For Snow” – das Album – endet dann aber doch so kontemplativ wie es 65 Minuten zuvor begonnen hat. Mit der nackten Ballade “Among Angels”, die nur ein Piano und Kate Bushs zum warmen Alt gereifte Stimme erklingen lässt. Was bleibt zurück von Bushs stimmungsvollen bis absurden Schneegeschichten? Eigentlich eine ganze Menge, denn “50 Words For Snow” transportiert eine große künstlerische Albumvision von Musik, die ihre Leerstellen und Pausen feiert. Die Kunst der Weglassens, des Wartens, der Fantasie wurde im Pop lange nicht mehr so radikal vorgetragen. “50 Words For Snow” mag in klassischen Songstrukturen gedacht ein wenig zerfasert wirken. Als Klanggemälde, als winterliche Abenteuerreise ist dieses Zuhöralbum jedoch sowohl lyrisch wie auch akustisch überraschungsreich und ausgesprochen stimmungsvoll.

Eric Leimann